In memoriam Gertraut Haberkamp (29. Januar 1937 – 5. November 2023)
Thursday, November 30, 2023
Just am gleichen Tag wie der langjährige Präsident von RISM, Dr. Harald Heckmann, verstarb mit Dr. Gertraut Haberkamp in München eine Persönlichkeit, die die Arbeit von RISM wie wenige andere repräsentierte und darüber hinaus eine maßgebliche Figur in der Quellenforschung zur Wiener Klassik war.
Gertraut Haberkamp wurde als mittlere von fünf Töchtern einer musikfreudigen Arztfamilie in Bochum geboren. Nach kriegs- und nachkriegsbedingter teils verschlungener Schulbildung legte sie dort 1956 ihr Abitur ab und nahm im Folgejahr das Studium an der Wiener Universität auf: Musikwissenschaft als Hauptfach, Kunstgeschichte als Nebenfach. Wie viele musikbegeisterte Studierende in der österreichischen Hauptstadt verbrachte sie ihre Abende auf den Stehplätzen der Staatsoper, wo sie der Hausherr Herbert von Karajan nachhaltig beeindruckte. Ihr anfängliches Nebenfach Zeitungswissenschaft – ein Interesse, das sich in ihrer späteren Forschungstätigkeit erneut zeigen sollte –, tauschte sie nach dem Wechsel an die Ludwig-Maximilians-Universität München gegen Romanistik ein. Ihr Schwager, der Leiter des Spanischen Kulturinstituts, regte sie dazu an, ihre Dissertation über ein Thema aus der spanischen Renaissancemusik zu schreiben. Die Promotion erfolgte 1964, und mit der vier Jahre später erschienenen Arbeit Die weltliche Musik in Spanien um 1500. Der ‚Cancionero musical de Columbina‘ von Sevilla und außerspanische Handschriften legte sie auf kaum bearbeitetem Terrain eine international viel beachtete und bis heute grundlegende Schrift (einschließlich fast 300-seitiger Edition) vor.
Ihre häufige Präsenz im Musiklesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek während der Promotionszeit fiel dem damaligen Leiter der Musiksammlung und Verantwortlichen für die (west)deutsche Arbeitsgruppe von RISM, Dr. Kurt Dorfmüller, auf und er engagierte die frisch Promovierte zum Leidwesen ihres Doktorvaters Thrasybulos Georgiades, der sie lieber auf einer Universitätsstelle gesehen hätte. Für den noch jungen RISM-Verein war dies aber ein Glücksfall: Vom 14. September 1964 bis zu ihrem Renteneintritt am 20. Januar 2002 war Gertraut Haberkamp die nimmermüde Zugmaschine der RISM-Arbeitsstelle in München. Auf volle 40 Arbeitsjahre kommt sie, rechnet man die Werkverträge von 2003 bis 2007 hinzu. Mit nie erlahmendem Elan bereiste sie – anfangs mitsamt der gesamten Zettelkartei und lange Zeit mit Schreibmaschine – die Republik, um vor Ort Musikbestände zu identifizieren, zu sichten, zu sortieren und in einem schier unglaublichen Tempo zu katalogisieren. Die Arbeitsbedingungen füllten das gesamte Spektrum zwischen „fürstlichen“ Verhältnissen bei Adelsbeständen und prekären Umständen bei manchem kleinen Archiv. Insbesondere die Katalogaufnahmen an Ort und Stelle verlangten noch lange umfassendes Wissen und spezielle Kenntnisse, wenn keine Hilfsmittel für die Recherche vorhanden waren. Ergebnis waren die Tausende Karteikarten für Musikdrucke, Libretti und Musikhandschriften, mit denen sie im RISM-Büro den Alphabetischen und Systematischen Zettelkatalog fütterte und hegte. Noch heute klebt dort eine humorvolle Anweisung von ihr an die zahlreichen Benutzer, die sich zur Recherche einstellten: „Bitte kein Schlachtfeld hinterlassen“. Eine lesenswerte sachliche Darstellung der früheren Katalogisierungsverfahren, die mitunter aber auch lebensnahe und launige Schilderungen enthält, wie sie für ihren Charakter typisch waren, enthält ihr Beitrag im Bibliotheksforum Bayern 20.2 (1992), S. 153–168.
Mit der Erweiterung des Personals konnte sich Gertraut Haberkamp seit den 1970er Jahren immer mehr auf die zupackende Leitung der Münchner Arbeitsstelle und auf die süddeutschen Bestände konzentrieren, die teilweise aus bedeutenden Bibliotheken stammten und meist im Rahmen der Kataloge Bayerischer Musiksammlungen in Buchform veröffentlicht wurden, darunter die umfangreichen Sammlungen der Bischöflichen Zentralbibliothek sowie der Fürst-Thurn-und-Taxis-Hofbibliothek Regensburg, der Fürstlich Oettingen-Wallerstein’schen Bibliothek, der Königlichen Hofkapelle und der Kurfürstin Maria Anna in München, der Fürstlich Hohenlohe-Langenburg’schen Schloßbibliothek, der Benediktinerabtei Ottobeuren und der Dommusik Passau.
Gertraut Haberkamp, 1974
Ihre Expertise in der Quellenerfassung und ihr Engagement für RISM (von ihr übrigens im Deutschen ohne jede Ausnahme R-I-S-M ausgesprochen) ist jedoch nur die eine Seite ihrer Tätigkeit. „Im Dienst der Quellen zur Musik“ zu stehen, wie der Titel der ihr zum 65. Geburtstag gewidmeten Festschrift lautet, war ihr nicht nur Arbeitsprogramm, sondern wissenschaftliche Lebensaufgabe. Neben Rezensionen und Aufsätzen zu Einzelthemen und -fällen sind es vor allem drei Großprojekte, die sie über Jahrzehnte in ihrer Freizeit beschäftigten und in zahllose Bibliotheken der europäischen Metropolen führten. Nachdem sie die ehrenvolle, aber unrealistische Anfrage, das neue Köchelverzeichnis zu erarbeiten, abgelehnt hatte, publizierte sie 1986 als Text- und als Bildband Die Erstdrucke der Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, ihrem auch persönlich favorisierten Komponisten. Was uns heute als Selbstverständlichkeit im Umgang mit gedruckten Musikalien erscheinen will (dass man jedes Exemplar per Autopsie untersuchen muss, um herauszufinden, ob es wirklich mit einem anderen identisch ist), hat hier seine erste umfassende methodische Demonstration erfahren. Als publizistischer Meilenstein erschienen von 1992 bis 2016 in den Mozart-Studien 21 Aufstellungen von historischen „Anzeigen und Rezensionen von Mozart-Drucken in Zeitungen und Zeitschriften“. Und ruhelos auch im Ruhestand, sprang sie ihrem früheren Mentor und lebenslangen Freund Kurt Dorfmüller zur Seite und übernahm für ihn die Arbeiten am revidierten Beethoven-Werkverzeichnis, dessen unter ihrer maßgeblichen Mitwirkung erstellte Neuausgabe 2014 erschien.
Musikquellen waren ihre Passion, RISM die Struktur, in die sie die Resultate dieser Leidenschaft einspeisen konnte. Mensch und Aufgabe gingen hier sichtlich ineinander auf. Als ich 2018 gefragt wurde, den Vorsitz des deutschen RISM-Vereins zu übernehmen, kamen mir sofort die Bilder und Klänge der vier gemeinsam mit Gertraut Haberkamp in einem (großen) Raum verbrachten Jahre in den Sinn. Sie hat mir nicht nur viel beigebracht, sie hat mir vor allem das ein Leben lang anhaltende Gefühl vermittelt, dass für Musik und Musikgeschichte Quellen zwar vielleicht nicht alles sind, ohne Quellen aber alles nichts ist. Und ohne das beharrliche Wirken von Gertraut Haberkamp wäre RISM Deutschland nicht das, was es jetzt ist: die Daten-Lokomotive. Wir werden ihre Leistung und ihre sprühende Persönlichkeit nicht vergessen.
Nicole Schwindt
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